Warum ein normaler Aufzug im Brandfall tödlich sein kann
Stell dir vor, du bist auf Rollstuhl angewiesen, hast eine Sehbehinderung oder bist bettlägerig. Es brennt in deinem Haus. Du rufst um Hilfe. Der Aufzug, den du sonst jeden Tag nutzt, fährt plötzlich nicht mehr. Er ist abgeschaltet. Kein Signal, keine Anzeige, kein Weg nach unten. Das ist kein Horrorfilm - das ist die Realität in vielen deutschen Gebäuden. Standardaufzüge werden bei Brandmeldung automatisch abgeschaltet. Für Menschen ohne Mobilitätseinschränkung ist das kein Problem. Sie nehmen die Treppe. Aber für dich? Du bist gefangen. Und das ist kein technischer Fehler - das ist ein Planungsversagen.
Was ist ein barrierefreies Fluchtkonzept?
Ein barrierefreies Fluchtkonzept ist kein Zusatzbonus. Es ist eine rechtliche Pflicht. Und es geht nicht nur um Rampen und breite Türen. Es geht darum, dass Menschen mit motorischen, sensorischen oder kognitiven Einschränkungen im Brandfall selbstständig aus dem Gebäude kommen können - oder zumindest sicher auf Hilfe warten. Die Grundlage ist die DIN 18040-1, die seit 2016 gültig ist. Sie verlangt: Fluchtwege müssen stufenlos sein, Türen leicht zu öffnen, Wege klar erkennbar. Aber das reicht nicht. Du brauchst mehr als nur Zugang. Du brauchst eine funktionierende Rettungskette.
Der Sicherheitsaufzug: Die wichtigste technische Lösung
Ein normaler Aufzug ist im Brandfall nutzlos. Ein Sicherheitsaufzug nach VDI 6017 ist etwas ganz anderes. Er bleibt bei einem Brand in Betrieb - wenn es sicher ist. Er fährt nicht in das Vollrauchgeschoss, sondern nur noch zur Evakuierungshaltestelle. Und er hält durch: mindestens 60 Minuten bei Brand, mit einer Notstromversorgung, die zwei Stunden hält. Der Platz vor dem Aufzug muss mindestens 2,5 mal 2,5 Meter groß sein, damit Rollstühle wenden können und andere Fluchtwegnutzer nicht blockiert werden. Diese Aufzüge kosten 20 bis 30 Prozent mehr als normale. Aber sie retten Leben. In Krankenhäusern, Pflegeheimen und barrierefreien Wohnungen sind sie heute nicht mehr optional. Sie sind der zentrale Pfeiler jeder modernen Fluchtkonzeption.
Was du sehen und fühlen musst: Das Zwei-Sinne-Prinzip
Wenn du schlecht siehst, reicht ein Schild nicht. Du brauchst taktil erfassbare Hinweise. Das Zwei-Sinne-Prinzip sagt: Fluchtweginformationen müssen sowohl visuell als auch taktil wahrnehmbar sein. Treppenstufen müssen kontrastreich sein - mindestens 30 Luminanzkontrast. Das bedeutet: Dunkle Stufen auf heller Treppe oder umgekehrt. Bodenmarkierungen mit Rillen oder Punkten helfen, den Weg zu finden. Türen haben taktil erkennbare Griffe. Rauchmelder piepen nicht nur - sie blinken hell und stark. In Schlafzimmern und Wohnräumen müssen funkvernetzte Rauchmelder installiert sein, die auch bei schwerer Hörschädigung alarmieren. Das ist kein Luxus. Das ist Überleben.
Warum viele Konzepte scheitern: Der Fehler der Fremdrettung
Ein großer Teil der Brandschutzkonzepte setzt nur auf Fremdrettung: Feuerwehr, Pflegepersonal, Angehörige. Das klingt sicher - ist es aber nicht. Im Ernstfall ist die Feuerwehr nicht sofort da. Pflegekräfte sind oft überlastet. Angehörige sind vielleicht gar nicht anwesend. Prof. Dr.-Ing. Christian Seifert von der TU Braunschweig sagt es klar: „Viele Konzepte setzen nur auf Fremdrettung - ohne Selbstrettungsoptionen.“ Das ist rechtlich riskant. Und menschlich verantwortungslos. Ein gutes Konzept kombiniert beides: Es ermöglicht Selbstrettung, wo möglich - und bereitet Fremdrettung vor, wo nötig. Das ist das STOP-Prinzip: Substitution (Gefahren vermeiden), technische Lösungen (Aufzüge, Markierungen), organisatorische Lösungen (Rettungspläne, Schulungen).
Praktische Umsetzung: Neubau vs. Nachrüstung
Wenn du ein neues Gebäude planst: Integriere den Sicherheitsaufzug von Anfang an. Dann kostet er 150.000 Euro und braucht drei Monate Planung. Das ist der Standard. Aber wenn du ein altes Krankenhaus oder eine Altenwohnung nachrüsten willst? Dann wird es kompliziert. Platz für den Aufzug? Nicht da. Die Tragfähigkeit der Wand? Nicht gegeben. Die Elektroleitungen? Veraltet. Ein Fall aus München: Die Nachrüstung eines bestehenden Krankenhauses dauerte 18 Monate und kostete 220.000 Euro - mehr als doppelt so viel wie im Neubau. Und das ist kein Einzelfall. Die größte Hürde ist nicht die Technik. Es ist der Platz. Und die Zeit. Deshalb: Wer heute baut, hat die Chance, es richtig zu machen. Wer nachrüstet, kämpft gegen die Struktur.
Was ist erlaubt? Alternativen zum Aufzug
Nicht jedes Gebäude hat Platz für einen Sicherheitsaufzug. Dann brauchst du Alternativen. Rohr- oder Schlauchrutschen sind erprobt und zulässig - besonders in Pflegeeinrichtungen oder Schulen. Sie funktionieren ohne Strom, sind robust und schnell. Aber sie brauchen Raum, Training und passende Einrichtungen. Auch geneigte Wege mit Rampen sind Teil des Konzepts - wenn sie breit genug, nicht zu steil und mit Handläufen ausgestattet sind. Die DIN 18040-1 schreibt vor: Der erste und zweite Rettungsweg muss barrierefrei sein. Das heißt: Keine Treppe als einziger Ausgang. Kein Fluchtweg, der nur mit Hilfe nutzbar ist. Es muss eine Lösung geben, die auch ohne Unterstützung funktioniert.
Die Zukunft: Digitalisierung und Gesetzgebung
Brandschutz wird digital. In neuen Projekten gibt es Apps, die den Fluchtweg auf dem Handy zeigen - mit Sprachausgabe für Blinde, mit visuellen Pfeilen für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Digitale Fluchtplananzeige an Treppenhäusern zeigt den Weg in Echtzeit. Die Bundesländer verschärfen die Regeln. Berlin verlangt bis 2025, dass alle öffentlichen Gebäude mit mehr als 500 Quadratmetern Nutzfläche barrierefreie Evakuierungskonzepte haben. Das ist kein Wunsch. Das ist Gesetz. Und es wird sich durchsetzen. Der Markt für solche Lösungen wächst: 185 Millionen Euro Umsatz im Jahr 2023, laut Branchenverband BFB. Die Demografie treibt es an: 11,3 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Behinderung. Sie haben das Recht, sicher zu leben - auch im Brandfall.
Was du jetzt tun kannst
- Prüfe, ob dein Gebäude einen Sicherheitsaufzug hat - und ob er nach VDI 6017 zertifiziert ist.
- Frage nach dem Brandschutzkonzept: Steht darin, wie Menschen mit Einschränkungen evakuiert werden?
- Prüfe die Fluchtwege: Sind sie stufenlos? Haben sie kontrastreiche Stufen? Gibt es taktil erkennbare Hinweise?
- Stelle sicher, dass Rauchmelder in jedem Raum sind - und funkvernetzt.
- Wenn du baust: Integriere Brandschutz und Barrierefreiheit von Anfang an. Später ist es doppelt so teuer.
Ist ein Sicherheitsaufzug in Wohnungen Pflicht?
In privaten Wohnungen ist ein Sicherheitsaufzug nicht automatisch Pflicht - es sei denn, das Gebäude ist barrierefrei geplant und Menschen mit eingeschränkter Mobilität leben oder wohnen dort. In öffentlichen Gebäuden, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern und Mehrfamilienhäusern mit barrierefreien Wohnungen ist er gesetzlich vorgeschrieben. Die DIN 18040-1 verlangt, dass Fluchtweg und Erschließung barrierefrei sein müssen - und das schließt die Nutzung von Aufzügen im Brandfall ein.
Kann ich einen normalen Aufzug nachrüsten?
Nein. Ein normaler Aufzug kann nicht einfach nachgerüstet werden, um ihn brandschutztechnisch sicher zu machen. Er muss von Grund auf als Sicherheitsaufzug nach VDI 6017 geplant und installiert werden. Das beinhaltet eine spezielle Steuerung, eine eigene Notstromversorgung, einen verlängerten Betrieb bei Brand und einen sicheren Wartebereich. Nur so erfüllt er die gesetzlichen Anforderungen.
Was passiert, wenn ein Gebäude kein barrierefreies Fluchtkonzept hat?
Es kann nicht genehmigt werden. Bei bestehenden Gebäuden drohen Bußgelder, Zwangsräumung oder Haftung bei Unfällen. Im Ernstfall kann der Betreiber wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung strafrechtlich belangt werden, wenn nachgewiesen wird, dass ein fluchtsicherer Weg nicht bereitgestellt wurde. Versicherungen lehnen Schadensersatzansprüche oft ab, wenn keine gesetzlich vorgeschriebenen Brandschutzmaßnahmen vorhanden sind.
Welche Rolle spielt das Pflegepersonal dabei?
Pflegepersonal ist Teil des organischen Rettungskonzepts, aber nicht die einzige Lösung. Es muss geschult sein, wie es Menschen mit Behinderungen sicher evakuiert - zum Beispiel mit speziellen Evakuierungsschlitten oder durch Begleitung über Rampen. Aber es darf nicht darauf vertraut werden, dass Pflegekräfte immer da sind. Deshalb müssen technische Lösungen wie Sicherheitsaufzüge oder Rutschen die primäre Rettung ermöglichen. Pflegekräfte unterstützen - sie ersetzen nicht die Technik.
Gibt es Fördermittel für barrierefreie Brandschutzlösungen?
Ja. In einigen Bundesländern gibt es Förderprogramme für die Nachrüstung barrierefreier Fluchtwegsysteme, besonders in Pflegeeinrichtungen und öffentlichen Gebäuden. Die KfW bietet Zuschüsse für barrierefreie Umbauten, die auch Brandschutzmaßnahmen einschließen. Kommunen und Sozialämter können ebenfalls Unterstützung leisten. Es lohnt sich, bei der örtlichen Bauaufsicht oder dem Landesamt für Soziales nachzufragen.